7 Naturen

Lübecks Naturerlebnisräume
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Plankenwiese

von Anja Schwennsen
geschrieben in Plankenwiese

Eingang

Ich streife auf dem Bürgersteig vor der Wiese umher. Es gibt eigentlich keinen Weg, nur ein gemähtes Stück am westlichen Rand der Wiese gesäumt von einem etwa drei Meter tiefen Gebüsch aus Feldahorn, Spitzahorn und Hasel, das an einem Maschendrahtzaun endet. Ich vermisse ein Schild: Plankenwiese – aber das wird sie sein oder liegt sie doch weiter hinten und ich muss einen offiziellen Eingang nehmen? Quatsch. Ich gehe drauf los. Nach ein paar Metern auf dem abgemähten Stück, entdecke ich den Körper einer Blindschleiche. Er glänzt dunkel auf dem Gelbgrün der kurzen Halme. Der Kopf fehlt und liegt vermutlich zwischen Grasschnitt auf dem Recyclinghof. Ich gehe doch wieder zurück zur Straße, entschlossen, meinem Navi durch die Nachkriegssiedlung hinter dem Maschendrahtzaun zu folgen. Auf dem Bürgersteig kommt eine Frau mit Kinderwagen und Hund auf mich zu. Sie lächelt.

„Da hinten ist nicht mehr viel.“

Ich frage nach der Plankenwiese. Ja, das sei sie, aber früher sei es hier viel schöner gewesen. Vor dreißig Jahren habe es da eine Grundschullehrerin gegeben, die das alles für die Kinder erschlossen habe. Ihr kleiner Sohn, damals erst vier oder fünf habe auf eine ihrer Entdeckungstouren mitgedurft. Noch am selben Abend schickt sie mir einen alten Artikel aus der Lokalzeitung. Ein Foto zeigt ihren Sohn, wie er einen Käfer beobachtet. In der Überschrift steht, dass Kinder hier an ihre Wurzeln zurückgeführt würden.

Ich bin also richtig und mache mich auf den Weg entlang der Plankenwiese. Schon nach hundert Metern hat sich die Atmosphäre völlig verändert. Die Straße in meinem Rücken ist nur noch als ein grauer Punkt zu erkennen. Ich bin völlig allein auf der Wiese und ich hätte vergessen können, dass ich am Stadtrand von Lübeck bin, wenn da nicht das Schreien und Rufen der Kinder vom Schulhof hinter dem Gebüsch gewesen wäre.

Grenze

Ich verlasse den abgemähten Streifen und gehe über die Wiese bis zu dem Schilfdickicht, hinter dem ich den Herrngraben und die Otter vermute. Wie gründlich war man wohl beim Entfernen des Grenzzauns? Liegen dort drüben verborgen unter Flussschlamm und Schilf noch Betonfundamente, in denen die Pfeiler des Metallgitterzauns verankert waren? Ich nehme es an. Wenn man wirklich jedes Fundament auf 1400 km innerdeutscher Grenze ausgebaggert hätte, wären doch all die Auen, Gehölze und Böschungen zerfahren worden, über die man sich heute so freut. Die Stumpen der Pfeiler liegen dort unter dem Morast und durchziehen Deutschland wie die Stiche einer Kopfnaht, über die jetzt Haare gewachsen sind.

Ich bin im Westen aufgewachsen, in einem Dorf in Niedersachsen an der Grenze zu Hamburg. Ich ging oft über diese Landesgrenze zu meiner Oma. Der Weg führte entlang eines Maschendrahtzauns, an dessen oberen Ende Rollen mit Metalldornen angebracht waren. Dahinter lag das Gelände der Bundeswehr, bei der mein Vater sieben Jahre lang seinen Dienst tat. Beim Überqueren der Panzerstraße, die aus dem Gelände hinausführte und den Wald durchschnitt, grüßte ich die wachhabenden Soldaten, die hinter dem Einfahrtstor mit ihren Maschinengewehren standen.

Bei meiner Oma im Wohnzimmer aß ich Butterkuchen und trank Ostfriesentee mit viel Klünches. Dabei hörte ich ihr zu, wie sie von ihrer Jugend im Krieg und von dem Mann erzählte, den sie geheiratet hätte, wenn er wieder gekommen wäre, und von den beiden Ehemännern, die danach kamen und von denen sie sich scheiden ließ. Von dem ersten, weil er in Görlitz und nicht in Hamburg leben wollte. „Ich geh‘ doch nicht zurück zum Russen“, hatte sie gesagt und wurde schuldig geschieden.

Von dem zweiten Ehemann ließ sie sich scheiden, weil ihn zwölf Jahre Gefangenschaft in Workuta für ein Eheleben untauglich gemacht hatten. Als sie das Ausmaß seiner Versehrtheit zu ahnen begann, war mein Vater schon da, und deshalb dauerte diese Ehe etwas länger. Manchmal begleitete ein leises Klirren die Erzählungen meiner Oma. Das war dann der rote Glasapfel an ihrer Wohnzimmerfensterscheibe, der von den Schüssen im Tuppenübungsgelände vibirierte.

Ich kehre dem Schilfgürtel und damit der ehemaligen Grenze den Rücken, um zurück zum abgemähten Teil der Wiese zu gelangen. Die Schüsse würde man von hier aus gehört haben, wenn auf der anderen Seite jemand versucht hätte, rüber zu machen.

Butterblume

Ein paar Butterblumenblüten neben Sauerampfer und Spitzwegerich im Gras lassen mich stehen bleiben. Auch auf unseren Moorwiesen habe ich mich immer besonders über die Butterblumen gefreut. Eine einfache Blütenform, klein, beinahe unscheinbar, aber das glänzende Gelb anziehend und lecker.

Das französiche Bouton d’Or fällt mir ein und wie Marcel Proust mit der Rede von diesem Gold die Erinnerungen seiner Kindheit überzog. Die Bezeichnung Goldknopf gefällt mir, weil es schön ist, die ganze Wiese in den Blick zu nehmen und in ihr die gelben Blüten als Goldknöpfchen zu sehen.

Als ich irgendwann lernte, dass man die Butterblume zu den Hahnenfußgewächsen zählt, regte sich in mir ein Widerwillen gegen diesen Namen, weil ich nicht einsehen konnte, dass der Botaniker als Ausgangspunkt für seine Bezeichnung allen Ernstes die hahnenfußartigen Blätter gewählt hatte und nicht die buttrig, gelb glänzenden Blüten, die ich genauso wie meine Freunde aus Kindertagen seit jeher mit der Butterblume im Mund führe.

Feuerstelle

Am Ende der Wiese liegt ein Haselnusshain. Die hoch gewachsenen Büsche wölben sich über dem Weg und nur noch wenig Licht dringt durch das dichte Blattwerk. Am anderen Ende dieser opalgrünen Dämmerung schimmert es hellgrün. Es ist der gemähte Streifen eines zweiten Teils der Wiese. Ich will schon hindurchgehen, um zu dieser verheißungsvoll leuchtenden Wiese zu gelangen, als ich linker Hand eine Feuerstelle entdecke. Um eine gepflasterte Vertiefung mit etwa zwei Metern Durchmesser stehen drei Bänke in einem Halbrund. Einen Mülleimer gibt es auch, vor dem ein wenig Müll herumliegt. Die Vertiefung ist mit schwarzer Erde gefüllt und bei ihrem Anblick fallen mir Worte wie Kehrblech und Schaufel zu. Es wird dunkler und das leuchtende Grün der zweiten Wiese ist jetzt von Schatten überzogen. Der Himmel, wo ich ihn sehe, ist milchig weiß. Es nieselt leicht und ich gehe weiter im Schutz des Haselnusshains, der sich aus mehreren Strauchgruppen zu einer Art Kreuzgang formt. Links des Weges ist die Plankenwiese jetzt in einen von Weiden umkränzten Brennessegrund übergegangen.

Weidenbrücke

Da ist eine Weide, aus der vor langer Zeit ein Ast gebrochen ist und ihren Stamm geöffnet hat. An der Bruchstelle ist die Weide hohl, während links und rechts oberhalb des Hohlraums zwei baumgleiche Stämme in die Höhe wachsen und das Leben der Weide fortsetzen. Der abgeknickte Stamm ist weiterhin mit ihrem Körper verbunden wie eine Rampe, die zu dem Hohlraum führt. Ein genialer Ort für Eulen oder Kinder. Die Abschabungen auf dem abgeknickten Ast lassen auf Kinderfüße schließen, die hier hinaufgeklettert sind. Zwischen den zwei Stämmen oberhalb der Baumhöhle verbinden verwitterte Stämme und eine genagelte Holzkonstruktion die Höhlenweide mit einer zweiten, mächtigen Weide. Ein Kinderabenteuer von Erwachsenen gebaut. Die Brennesseln, die unversehrt gleich neben der Kletterrampe wachsen und ihre gezackten Blätter genau auf der Höhe des Pfades entfalten, den ein auf allen Vieren kriechendes oder auch geschickt balancierendes Kind würde nehmen müssen, zeigt an, dass hier in diesem Sommer noch niemand gespielt hat.

Schreibplatz

Der Nieselregen geht in einen Regenschauer über und die Zweige und Blätter über dem Weg halten immer weniger ab. Ich verlasse den Weg und gehe zu einem der Haselnussgehölze. Ein Haselnussstrauch ist wie das Wort Familie ein Singular, der eine Mehrzahl in sich fasst: Lauter schlanke Stämme mit glatter, gräulicher Rinde staken beinahe zweig- und blattlos wie ein wohl geordneter Strauß aus der Erde, bis auf eine Höhe von zweieinhalb Metern, von wo aus sie ihre Äste wie Schirme aufspannen und so zusammen mit den anderen Haselgehölzen ein Gewölbe bilden. Ich nehme meinen Rucksack ab und mache es mir zwischen den Wurzeln bequem.

Ich esse ein paar Stücke Schokolade, verhalte mich ruhig und schaue und warte, bis ich mich frage: worauf eigentlich? Darauf, dass der Regen aufhört und ich in diesem Naturerlebnisraum etwas erlebe? Ich esse noch mehr Schokolade und hole mein Notizheft heraus.

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