7 Naturen

Lübecks Naturerlebnisräume
erschreiben

Landgraben. Vom Entgrenzen

von Steffen Greiner
geschrieben in Fackenburger Landgraben

Der Landgraben ist eingeklemmter Raum. Diktiert nicht vom Graben, nicht vom Wasser, sondern vom Beton, gerade geführt, über die Wellen und Bäche hinweg, eine Mauer. Die Mauer heißt Vogelfluglinie, weil auch die Kraniche, auf ihrem Weg zwischen Mitteleuropa und Skandinavien, sich nicht um die Topografie am Boden kümmern, und warum sollten dann Autos.

Am Tremser Teich, in den der Landgraben mündet, haben Wildschweine die Erde aufgewühlt: Hinter der Bank, auf der ich sitze. Im Unterholz zwischen den Klopapierresten. Um den alten Grenzstein. Wie ich auch sie Unterworfene des Geländes, seiner Falten und Enden. Vielleicht suchen auch sie nach einem Weg, graben sich einen Ausweg, wo ich nur auf und ab wandern kann. Ehe ich doch den Durchbruch finde, wie ein Hirtenjunge im Märchen, der sicher nichts anfassen darf, sonst verschließen die Feen die Höhle wieder und alles, was ich sehe, Gold und Edelstein und feinste Speise, wird mitsamt meiner armen Seele für immer im Erdreich verschlossen.

Unter der Autobahn ist sie leise. Die Unterführung kaum zu finden. Vor der kleinen Brücke hätte ich abbiegen müssen. Ich sehe das blaue Fußgängerschild, aber deute es falsch, nach vorne, nicht weg nach links. Der Tunnel ist zweigeteilt. Oben, eng geführt ein Geländer entlang, mein Weg. Unten, breiter gefasst, das Wasser des Landgrabens. Es steht niedrig, ich sehe es am Rost der metallenen Fassung. Wie die Lärmschutzwand oben ist auch der Tunnel von mattem grün. Und dahinter erst das der Blätter. Ich trete durch das Hindernis zur Grenze.

An ihren Enden zerfasert die Stadt. Heißt es. Die letzten Texturen der Marktwirtschaft, die Institutionen der Kommune schleichen sich aus, die Straßen gewinnen Fahrspuren und verlieren heroische Namen. Verwischt ist, was Natur, was noch Zivilisation. Am Ende gibt es immer eine Straße, die über ein Feld führt, und selbst, wenn dahinter, irgendwo, noch einmal Stadt kommen sollte, ist absehbar, dass es das jetzt hier war, mit der Urbanität. Nächster Halt: Discoscheune. Das sind die Orte, durch die zur Dämmerung Füchse laufen und morgens das Reh. Räume des Durchquerens nach anderswo.

Der Landgraben umschließt die Stadt zuverlässig noch immer. Als Verteidigungsanlage crap, aber als Markierung nachhaltig. Seit dem 14. Jahrhundert endet die stolze Stadt Lübeck an einem kaum dreißig Zentimeter tiefen Bachbett. Und für vier Jahrzehnte mit ihr Bundesrepublik, NATO, „der Westen‟. Heute immerhin Schleswig-Holstein, im Südosten, entlang des Landgrabens bis zur Trave. Im Norden ist es nur Bad Schwartau und Stockelsdorf. Der Weg lässt mich beständig wechseln, von innen nach außen, von der kreisfreien Großstadt in den Landkreis Ostholstein und zurück. Von seinem unmittelbaren Außen aus betrachtet sieht Lübeck auch nicht anders aus als Völklingen oder Goslar.

Der Tremser Teich ist ein Industriegebiet. Ein Mühlteich, ein Wasserreservoir also, künstlich angelegt zum Antrieb eines Wasserrades, zugleich Zuchtteich für die Fischer und Teil der städtischen Verteidigung. Im 19. Jahrhundert entstand an seinen Ufern ein Eisenwerk von globaler Bedeutung. Es ist lange verschwunden. Heute gibt es nicht einmal mehr das Dorf Trems. Wie auch der Fackenburger Landgraben ist der Teich Teil der Landwehr. Angelegt ab 1303, umschließt das System aus Gräben und Wällen ganz Lübeck. Zu weit gefasst, um real verteidigt zu werden wie die noch immer mächtigen Mauern der Kernstadt, soll die Landwehr dem Gegner bloß erschweren, seinen Angriff vorzutragen. Noch immer bestimmen ihre Spuren das Gelände: Natur, die angelegt ist, angeeignet, zunutze gemacht wird. Und umgekehrt bestimmt die Topografie die städtische Macht. Der Landgraben ist weitgehend in seinem natürlichen Bett belassen worden. Wie auch andere Bereiche der Landwehr nutzten die mittelalterlichen Arbeiter*innen hier vorhandene Bäche, ließen das Gelände städtischen Einfluss und städtisches Innen bestimmen.

Es gibt kein jenseits der Autobahn. Das Rauschen unterlegt den Wald, lässt die in Paaren auftretenden Hundehalter*innen eine Nuance zu laut sprechen. Ich bin der einzige Mensch hier ohne Hund. Manche legen den ihren darum an die Leine, zeigen mir entschuldigende Blicke. Der Himmel zieht zu. Der Wald ist prächtig. Und der Landgraben fern, unten am Grund eines flachen Tales liegt er, hinter Dickicht und karger Erde. Und auf der anderen Seite, jenseits der Stadt, Zäune. Der Naturerlebnisraum endet am Eigentumsgrundstück. Dort, wo auf der anderen Seite der Abhang nach oben zieht, wächst grüner Rasen, nicht zu kurz, doch sichtbar gemäht. Rasensprenger, obwohl Regen angesagt ist. Die Zäune mit Holzpfählen, geschmackvoll, skandinavisch. Lehrbuch bürgerlichen Idylls, Bad Schwartau. Diesseits im Städtischen, schlage ich mich zum Ufer durch, unter Eiche und Ahorn: Schlamm, Bierflaschen, benutzte Kondome, leerer Kleiner Feigling ohne Etikett. Auch die Wildschweine waren hier und suchten wie ich ihre Wege.

Ich erinnere mich an die Stelle im Fluss Sambesi, an der Botswana, Namibia, Sambia und Simbabwe sich treffen, aber dass niemand weiß, wo sie wirklich liegt. Ich erinnere mich, wie ich 2014 von ukrainischen LKW-Fahrern las, die beschrieben, welche Brücken über den Fluss Dnjepr sie blockieren würden, um einen russischen Vormarsch zu verhindern. Ich erinnere mich an die Toten im Mittelmeer. Ich erinnere mich an die Residenzpflicht für neuankommende Geflüchtete, und dass die Bewegungsfreiheit darum für diese Lübecker*innen hier an diesem Bach endet. Ich erinnere mich, wie ich einmal über den Rubikon fuhr und es nicht fassen konnte: So ein großer Name und so ein kleines Rinnsal bei Rimini, da könnte man ja gleich den Fackenburger Landgraben überqueren, Legion für Legion über den Bach hüpfen lassen und den Hügel hinauf, nach Schwartau, Cherson, Sparta.

Hinter der Brücke nach Cleverbrück, Ortsteil von Bad Schwartau, kurz hinter einer Raupe aus Findlingen, die vermutlich daran erinnern soll, dass die Stadt sich dieser Natur als ihren Erlebnisraum angenommen hat, ändert sich die Landschaft. Wird eingehegter. Der Weg kreuzt den Bach hinter dem THW, dessen abgrenzende Betonmauer genau auf der Kippe zwischen Dorf und Stadt besprüht ist, nicht cringe genug für Provinz, keine ACAB-Bubbles, kein 1-8-7, nicht lit genug für New York. Der Zaun des Hilfswerks geht in den nächsten über, links hinter dem Bach, als würde sich Lübeck doch noch seiner längst geschleiften Stadtmauern gewahr Dann beginnt auch rechts des Weges der Zaun, Kleingärten, Schule, Löschteich. Die Grenze wird eingeklemmt. Idyllisch fließt sie dahin.

Hier endet Lübeck als Leichenacker. Der nie endende Zaun ist der des Vorwerker Friedhofs, eine riesige Fläche, gärtnerisch anspruchsvoll arrangiert: Mahnmale der Opfer von Faschismus, Gedenkstätte der Letten und Litauer, Lübecker Impfunglück, Garten der Besinnung. Ich denke an den Acheron, den Fluss ins Totenreich der Mythologie, und daran, dass die Lübecker Fährleute am Maschendraht anlegen müssten. Die letzte Grenze bleibt heute unüberwunden.

Zäune, dazwischen Wasser und daneben Weg. Die Bewegung ist so klar festgelegt, dass sie mich mit festlegt, meine Position. Naturerlebnis urbane Ränder. Selbst der Spielplatz ist eingezäunt, die Seilbahn scheint gefährlich. Hilflos schaue ich nach den Spuren der Wildschweine und der Feen, nach einem weiteren Tunnel, der mich weiterbringt, mir hilft, auszubrechen, die Logik des Geländes zu durchbrechen. Wenn der Fackenburger Landgraben eine Frage stellt, dann die, ob eine Welt ohne Grenzen denkbar ist in einer Welt, die nicht ohne Wasser denkbar ist, das sie in Schollen zerschneidet. Wie das Wasser entgrenzen, fragt er mich.

Und dann sagt er: Komm. Ich muss ja nur hineinsteigen, um meine Zugehörigkeit zu verwischen. Alter Trick, bekannt von Jesus und Siddharta. In der Grenze gehen, statt dem Weg zu folgen. Schon am Ufer versinke ich im Matsch, der die aufgeweichten Papiertaschentücher trägt, mich aber nicht. Ich kremple die Hose hoch, nehme meine Schuhe in die Hand. Das Wasser ist klar und natürlich kalt, schnell fließt es meine Waden entlang. Wo ich gehe, sinke ich ein. Wie tief, frage ich mich: Tief. Bis weit über die Knöchel stecke ich im Morast. Denke an die Flaschen am Ufer und ob auch da unten welche versteckt sind. Und wenn nicht die, dann was: Ich sehe Bläschen, wo immer ich eintrete, manchmal bleiben feine Ketten, wenn mein Schritt mich schon lange weitergeführt hat, Gase verwesender Lebewesen. Auch das Bett ein Leichenacker, Totenfluss.

Mein Weg endet im undurchdringlichen Gestrüpp, im Dickicht, wie es sich, wenige Meter hinter der kleinen Stelle schon, die die Nordlübecker Jugend sich in Jahren freigesessen hat, schon wieder schließt und über den Bach legt. Vergessen macht, dass die Ufer getrennte Sphären sind. Wieder klemmt sich, klemmt mich der Raum ein. Hier jedoch leise, sanft und satt. Grüne Grenze. Durch die das kalte Wasser strömt, mich dabei streichelt, und weiterfließt, zum Tunnel und weiter zum Teich, zum Fluss und bald, jenseits der Grenzen der Hansestadt Lübeck, tatsächlich, ja: ins Meer.

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