7 Naturen

Lübecks Naturerlebnisräume
erschreiben

Heldenreise

von Judith Gridl
geschrieben in Moislinger Aue und Krähenwald

Jede kreative Arbeit verbirgt in sich eine Reise, a Heros Journey, ob es ein Buch, eine Musik, ein Foto ist. Bei mir besteht meine Heldenreise darin, mit der Machete durch den Dschungel zu gehen. Für diesen kleinen Text beginnt sie am Rand der Moislinger Aue, am Specknitzkanal. Die Natur, mein Hund und ich und sonst niemand. Und ich betrat den Weg, der mir als alter Treidelweg im Internet beschrieben wurde, voll Erwartung, was da kommen möge.

Die Dame mit scheckig gefärbten Haaren sprach in spitzen, kleinen Worten.

Diese Art von Begegnungen habe ich oft. Ich hatte inzwischen gelernt, nicht mehr hinzuhören:

Dass ich meinen Hund anleinen sollte, hier im Naturschutzgebiet. Weil wie schnell ist was passiert.

Ich fragte mich, während sie redete, ob sie meinen Hund wirklich gesehen hatte oder nur die lose Leine in meiner Hand. Denn wenn sie meinen Hund gesehen hätte, dann wüsste sie, das ist ein Stadthund, der weiß, wie er Rolltreppen zu nehmen hat, aber er jagt keinem Tier nach.

Ich nickte in der Hoffnung, dass sie das beruhigen würde, während ich ihre Beine anstarrte. Wie große dicke Zuckerstängel, nur ohne Streifen. Ich lächelte, sie war mir nicht unsympathisch und ich fragte mich, was steckte wirklich dahinter, dass sie nicht aufhören wollte zu reden und eigentlich wollte sie mir nur sagen, dass ich hier neu war in dieser ihrer Natur und sie nicht. Wahrscheinlich ging sie diesen Weg jeden Tag und ich störte sie in ihrer Routine.

Ich hatte auch im Internet gelesen, dass dieser Weg sehr beliebt ist. Als er wegen Bauarbeiten drei Monate geschlossen war, gab es Proteste.

Endlich war sie fertig, ich nickte ihr zu und war allein.

Ich wollte zum Ufer. Das Wasser spüren, ist es seidig oder eher hart? Wie Zinn gehämmert? Oder fließt es wild?

Nach ein paar Minuten Fußmarsch sah ich einen Trampelpfad, der vom Hauptweg abzweigte. Trampelpfade sind mir auf meinen Heldenreisen die liebsten Pfade, sie flüstern: »Eigentlich darfst du das nicht, ich bin ein Weg aus der Revolution erwachsen von Leuten, die abseits gehen. Mich gibt es offiziell gar nicht.«

Ich nahm also diesen Trampelpfad, wie ich jeden Trampelpfad nehme und was ich am Ende sah, war das Wasser, nur zwei Meter noch, aber dazwischen: ein Liebespaar, ich hatte es überrascht – davor oder danach – weiß ich nicht, wichtig war mir nur jedenfalls nicht mittendrin. Es war uns dreien peinlich und ich bahnte mir den Weg unverrichteter Dinge wieder zurück durch die Brennnesseln.

Die denkbar dümmsten Schuhe hatte ich für heute angezogen: Espandrillos, in denen meine nackten Füße steckten, ich ging weiter, mein Hund trottete mir nach, wenig Lust hatte sie, wollte eigentlich wie immer nur ins Café, aber ich sage ihr: Unsere Heldenreise setzen wir fort. Wir müssen ans Wasser.

Allmählich konnte ich mich entspannen, die Gedanken flogen, umkreisten mein Buch an dem ich gerade arbeite, es war auch nicht mehr kalt, die Sonne blitzte heraus, es wurde sogar richtig heiß, stechend heiß und ich blieb mitten in der Kurve stehen und zog meine Jacke aus. Die wäre dann fast von einem braungelockten jungen Mann mitgenommen worden, der um die Kurve mit seinem Fahrrad schoss, und dahinter folgten noch drei seiner Freunde, die mich in ihre Mitte nahmen wie eine Sandbank im Meer.

Der Treidelweg am Specknitzkanal ist ein sehr beliebtes Naherholungsgebiet von Lübeck.

Nach ein paar Minuten war ich wieder im Rhythmus. »Flapp, flapp« machten meine Espandrillos auf dem lehmigen Boden, auf den es eben noch geregnet hatte. Ein bisschen mehr, und es wäre matschig gewesen und so sogen sich meine Schuhe nur ein bisschen fest und schmatzten, wenn ich sie wieder loslöste. Ich genoss die Stille und dachte, was mir alles einfällt zu den großen Huflattichblättern, die wie ein Trichter das Regenwasser sammelten, doch dann störten mich die Autobahngeräusche, die immer stärker wurden und ich nahm einen anderen Weg.

Vor mir ging nun eine Frau, deren Pferdeschwanz energisch hin- und herbaumelte. Um die Taille hatte sie sich einen schlaffen beigefarbenen Pulli geschlungen, der demnächst herunterfallen würde – ein Ärmel schleifte schon über den Boden, wie eine Geisel, die weggezerrt wird.

»Entschuldigung, ihr Pulli,« rief ich.

Aber sie hörte nicht und ich beschleunigte meine Schritte, aber diese Frau ging schnell, viel zu schnell. Ich musste in Laufschritt verfallen und rief noch einmal: »Ihr Pulli.« Das konnte sie nicht überhört haben, Aber ihre Gangart – völlig unbeirrt und schnurstracks – da war mir klar: Ich musste einen Sprint einlegen und ich erwischte sie von hinten an der Schulter und schrie ihr ins Gesicht: »Ihr Pulli!«

Mit einem Ruck riss sie ihren Kopfhörer aus dem linken Ohr und fragte: »Was?« Ich deutete nach unten, erschöpft vom Laufen, Sie bedankte sich mit einem Nicken, ließ mich stehen und eilte geschäftig weiter.

Vom Treidelweg aus wurden die Schiffe stromaufwärts gezogen, von den Menschen, die in den umliegenden Bauernhäusern wohnten. Jetzt ist es ein Wanderweg und lädt bei schönem Wetter ein, die Natur zu erkunden. Vier von fünf Sternen.

Ein Schwarm Wildenten flog am Himmel, eine keilförmige Phalanx gereckter Hälse und flatternder Flüge. Ich ging weiter und sog tief die frische Luft ein. Eine Geruchsmischung von Kerosin, abgestandenem Essen und Tabak drang in meine Nase. Ich sah unweit des Wegs zwei Menschen, die ihre Räder ins Gebüsch geworfen hatten, mitten in die hohen Stauden des Springkrauts und ihren Holzgrill bestückten. Zwei Menschen, die ein ganzes Uferstück mit ihren Jacken, Gepäck und Campingstühlen beschlagnahmt hatten und wahrscheinlich war es an der Art, wie ich stehenblieb, ein stummer Vorwurf, dass sie sich beeilten zu sagen: »Wir räumen das alles wieder weg!«

Mein Hund hatte die Würste auf dem Grill aber schon entdeckt, sodass ich mich ihnen nähern musste, bemüht darum, einen freundlichen, aber entschlossenen Eindruck zu machen, wie eine Frau vom Ordnungsamt. »Ja, bitte. Die Natur braucht 300 Jahre um die Plastikverpackung ihrer Würste zu zersetzen,« und ich bückte mich, gab ihnen mit einem aufgesetzten Lächeln ein Stück Sclhokoriegelverpackung, ein kleines Hin und Her, weil sie sagten, das wäre nicht ihrer, ich aber so: »Macht doch nichts, sie können es ja trotzdem mitnehmen, wenn sie dann sowieso …« und ich sah, nur zwei Meter entfernt das Wasser. Eine träge Masse, nur wenn man genau hinsah, bewegte es sich und ich hätte so gern meine Hand eingetaucht, aber wenn ich etwas hasse, dann ist es der Geruch von kaltem Schweinefett und ich spielte weiter meine Ordnungsamtrolle und sagte so: »Wenn hier jeder seinen Abfall mitnimmt, dann können wir alle den beliebten Treidelweg noch lange genießen.« Ich tat so, als ob ich mir eine Notiz auf meinem Handy machte und setzte meinen Weg fort, auf der Suche nach Ruhe und Wasser.

Nach ein paar Minuten änderte sich die Natur: Sie war nicht mehr dunkelgrün, die Moislinger Aue kündigte sich an, das Ufer öffnete sich und ich sah eine Grasinsel, ein unglaubliches Renoirgrün, und plötzlich starrte mir das Gesicht des Kanals entgegen.

Grau und träge. Am Ufer rülpste er sein Wasser aus, dann wartete er auf die nächste Bewegung, die kam, obwohl es gar nicht danach aussah. Ich kniete mich hin, schob die Ärmel meines Pullis hoch, als ich eine Stimme hörte: »Sehen Sie das?« Ein hagerer alter Mann deutete auf den Boden. Ich richtete mich halb auf, nur halb, weil vielleicht wollte ich das gar nicht sehen. »Nein,« sagte ich.

»Na, die Kotspritzer da.« Ich wollte das wirklich nicht sehen.

»Das macht die Bekassine, wenn sie aufgeschreckt wird.« Triumph in seiner Stimme.

Meine Schweigen als Antwort. Seine Aufforderung, nachzufragen, wer oder was die Bekassine ist, hing in der Luft wie der würzige Duft der Goldrute. Ich schwieg tapfer.

Doch dann fing er an: »Die Bekassine hat ihre Nester am Boden« – selbst schuld dachte ich in seine Kunstpause hinein – »und wenn ein Feind kommt, dann stößt sie eine übel riechende Flüssigkeit aus und bespritzt damit ihr Nest. Das wollen Sie nicht riechen. Schauen Sie mal!«

Ich wollte weder schauen noch riechen, ich wollte einfach nur allein sein. Ich schwieg weiterhin und kämpfte gegen seine Fragen an.

»Jetzt ist das Nest leer. Die schlüpfen meist so im Juni, vielleicht noch Anfang Juli.« Er blieb mit der Stimme oben und zeigte mir damit, dass er noch so einiges an Wörtern parat hatte. »Oder sie sind nicht geschlüpft und der Habicht hat sie alle gestohlen,« fügt er dann auch hinzu.

Damit hatte er mich: Mit diesem einen Wort: Habicht! Ich liebte Habichte und bevor ich mich daran hindern konnte, hatte ich auch schon gefragt: »Gibts hier Habichte?«

»Klar.«

»Wo genau?«

»Na hier.«

Ich seufzte, denn Habichte hassen Lärm. Ich würde keinen zu sehen bekommen mit diesem Mann. Habichte erkennt man an der Stille, die sie verbreiten. Eine plötzlich einsetzende Stille, gefolgt von den Rufen zu Tode erschrockener Waldvögel, die das Gefühl haben, das sich etwas knapp außerhalb ihres Gesichtsfeldes bewegt.

»Hier, sehen Sie? Da am anderen Ufer?«

»Was?«

»Na da. Wenn sich die Pappel noch mal so bewegt, dann sehen Sie es vielleicht.« Ich sah nur, dass der Wind die Pappel rüttelte, aber sonst nix.

»Ich gebe zu, dass ich es weiß. Vom Winter, wenn die Pappel entlaubt ist. Und was man weiß, sieht man auch.«

»Was denn nun?« Allmählich schämte ich mich ob meiner Unfreundlichkeit. Aber nur ein bisschen und nur allmählich.

»In der Astgabel: Ein Habichthorst!« sagte er.

Der Wind fegte wieder durch die Pappel, aber ich sah: Nichts. Der Mann musste Adleraugen haben.

Aber etwas anderes passierte: Der Kanal, diese gleichförmige, geradezu langweilige Masse bekam Schuppen. Der Wind war es, der ihn zu einem lang gestreckten Krokodil machte, dessen Haut ich unbedingt berühren wollte. Nur einmal – deshalb war ich doch hier. Doch dieser alte Mann zupfte mich am Oberarm, es wird gleich ordentlich regnen. Sie werden noch ganz nass in ihren Stoffschuhen und er lachte.

Er zog mich zurück zum Treidelweg und ich verstand nun, warum der Treidelweg so hieß, wie er hieß, es kommt vom lateinischen Wort für ziehen, nur jetzt war ich diejenige, die … und das, ohne meine Hand in das Wasser zu tauchen, er zog mich so schnell, dass ich dieses Nest von dem dummen Vogel nur flüchtig wahrnahm, vor uns eine Gruppe von Leuten, die ebenfalls einen Unterschlupf suchten, definitiv Leute von hier, wir alle hatten ein Ziel, von dem ich nichts wusste, aber das Trockenheit versprach und so kam es, dass ich unter einer Brücke gezogen wurde, mit sieben, acht , neun anderen Menschen, als der Regen einsetzte. Mein alter Mann kannte auch alle und sie redeten und eigentlich war es ganz nett hier, unter diesen Norddeutschen, die mitleidvolle Blicke für meine Schuhe hatten. Und dann war der Regen vorbei. Ich bedankte mich und meinte es ehrlich und verließ den Nachbarschaftstreff und ging weiter.

Die Luft war nun kalt, vom Boden stieg noch Wärme auf, und das gleichmäßige Gehen mit dem Begleitgeräusch des hohen Klirrens der Hundemarke tat gut. Endlich war da Ruhe, die nun Besitz von meinem Körper gegriffen hatte, diese Ruhe, die die Natur ausstrahlt und ich ging, und plötzlich roch alles nach Pfefferminz, ein scharfer und süßer Duft gleichzeitig, den das nasse Ufer unter dem Ansturm des Regens freigesetzt hatte.

Es war still. Nie erlebte ich so eine Stille, die Erde könnte unbewohnt sein, Und ich ging und ging und war eins mit mir, und dann zweigte ein Weg ab, fast nicht zu erkennen, schlängelte er sich durch das Schilf, ich wusste, den musste ich nehmen, um endlich zum Wasser zu kommen. Mein Hund blieb zurück, weil sie wusste, da vorn war nur Wasser, also das Gegenteil von Futter und ich würde wiederkommen und endlich war es so weit, ich streckte meine Hand in das Wasser, eine braune Brühe, aufgewühlt durch den Regen und ließ es durch meine Hand gleiten und war glücklich.

Auf dem Rückweg im Bus las ich noch: Der Name der Mosislinger Aue kommt von einer Familie Mosiling, die hier vor paar hundert Jahren Jahre ein Gut hatte – eine Großfamilie mit 18 Kindern. Also diese Gegend war schon immer sehr bevölkert. Ich hatte heute all ihre Nachkommen getroffen.

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